Lehnswesen

Die Heerschildordnung des Eike von Repgow bietet eine Standesgliederung der mittelalterlichen Gesellschaft, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 164, fol. 1r
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Das Lehnswesen (auch Feudal- oder Benefizialwesen von lateinisch Feudum, Feodum oder Beneficium) war eine im mittelalterlichen Europa herausgebildete Gesellschafts-, Wirtschafts-, Rechts- und/oder Besitzordnung. Sie beruhte auf dem Recht, dass ein Lehnsherr Anderen, Vasallen oder Lehnsmännern, eine ihm gehörende Sache, das Lehen oder Lehnsgut, überließ. Als Gegenleistung musste der Lehnsmann dem Lehnsherrn militärische Gefolgschaft und politische Treue versprechen. Dazu schworen sie einander, nichts zum Schaden und alles zum Nutzen des Anderen zu tun.

Als Abbild der Rechtsbeziehungen wurde im 16. Jahrhundert die sogenannte Lehenspyramide entwickelt, die Lehnsherren und Vasallen in drei oder vier Hierarchieebenen ordnet.[1] An der Spitze steht der Kaiser oder König, der Teile des Reichsguts als Kronlehen an seine Vasallen vergibt, mit denen diese wiederum ihre Unter- oder Aftervasallen belehnen. Die Basis bilden die unfreien Bauern. Das Lehen kann aus einem Territorium, einem Grundstück oder einem Komplex von Grundstücken bestehen, auf denen der Lehnsmann die Landes- oder die Grundherrschaft ausübt. Die Darstellung der Lehenspyramide ist nach Ansicht vieler Wissenschaftler zu wenig komplex, um die Realität gerade im Heiligen Römischen Reich abzubilden.[2][3]

Die regionalen Rechtsgrundsätze über das Lehnswesen bildeten das Lehnrecht, kodifiziert in zum Beispiel dem lombardischen Libri Feudorum[4] oder dem Sachsenspiegel.[5] Das Lehnswesen war kennzeichnend für den Feudalismus und das politisch-ökonomische System des europäischen Mittelalters. Aber auch in anderen Kulturen, insbesondere in Japan (siehe Han für die Fürstenlehen und Samurai für die Lehnsleute), entstanden Strukturen, die sich mit dem europäischen Lehnswesen vergleichen lassen.

Seit den 1990er Jahren wird das Bild von einer lehnrechtlichen Prägung mittelalterlicher politischer und sozialer Strukturen von verschiedenen Forschern kritisiert. Bahnbrechend war hier Susan Reynolds; ihrer Meinung nach hätten bisherige Historiker eine erst im 16. Jahrhundert durch juristische Systematisierung entstandene Vorstellung von einer engen Verknüpfung von Vasallität und Lehen auf die Verhältnisse des Früh- und Hochmittelalters übertragen.[6] An Dienste geknüpfte Vergabe von Land und Rechten sind bereits seit der Karolinger­zeit belegt und seit dem Hochmittelalter lässt sich die Verbindung von persönlicher Abhängigkeit und geteilten Rechten an Grund als Lehnsbeziehung nachweisen. Aber beides war nicht zwangsläufig miteinander verbunden und das Lehnrecht stellte oft nur eine von verschiedenen Varianten dar, soziale Beziehungen zu definieren. Ein systematisiertes Lehnsrecht entwickelte sich erst ab Mitte des 12. Jahrhunderts, von Oberitalien ausgehend.[7]

  1. Hartmut Boockmann: Ueber einen Topos in den Mittelalter-Darstellungen der Schulbuecher: Die Lehnspyramide. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 43 (1992) 6, S. 361–372.
  2. Markus Bernhardt: Die Lehnspyramide – ein Wiedergänger des Geschichtsunterrichts. In: Public History Weekly. Band 2, 2014, S. 23. (online)
  3. Arnold Bühler: Keine Lehnspyramide! Kein Lehnswesen! Plädoyer für eine Entrümpelung des Mittelalter-Unterrichts. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 70 (2019) 3/4, S. 136–148.
  4. Gerhard Dilcher: Das lombardische Lehnrecht der Libri Feudorum im europäischen Kontext. Entstehung – zentrale Probleme – Wirkungen. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Vorträge und Forschungen (VuF), ohne Jahr, S. 41–91.
  5. Friedrich Ebel (Hrsg.): Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht (= Reclams Universalbibliothek. Band 3355). Reclam, Stuttgart 1993, ISBN 3-15-003355-1; Durchges. und erg. Ausg. Hrsg. von Friedrich Ebel. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-003355-1.
  6. Susan Reynolds: Fiefs and vassals. The medieval evidence reinterpreted. Oxford 1994.
  7. Steffen Patzold: Das Lehnswesen. München 2012.

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