Humoralpathologie

Die Humoralpathologie (zu lateinisch humor: ‚Feuchtigkeit‘, ‚Körpersaft‘, ‚Leibessaft‘), genannt auch Humorallehre und Humoralbiologie, war eine in der Antike ausgebildete und bis ins 19. Jahrhundert allgemein anerkannte Krankheitslehre von den Körpersäften, deren richtige Mischung bzw. Zusammensetzung Voraussetzung für Gesundheit ist, deren Ungleichgewicht bzw. fehlerhafte Zusammensetzung oder Schädigung hingegen Krankheiten verursachen kann.[1][2]

Grundlage dafür ist die (Vier-)Säftelehre (auch: Vier-Säfte-Lehre, Viererschema), eine von der Antike bis ins 18. Jahrhundert allgemein anerkannte medizinische Konzeption, die erstmals im Corpus Hippocraticum (u. a. in De aeribus […] und De natura hominis, griechisch περί φύσιος ἀνθρώπου,[3] „Über die Natur des Menschen“;[4] um 400 v. Chr.) zur Erklärung allgemeiner Körpervorgänge und als Krankheitskonzept zur Erklärung vieler Krankheitszustände entwickelt wurde. Sie war nach Begründung der Zellularpathologie durch Rudolf Virchow im 19. Jahrhundert in den ätiologischen und therapeutischen Vorstellungen in Physiologie und Medizin wissenschaftlich überholt.

Ursprünge der Viersäftelehre gab es vermutlich schon im Alten Ägypten, sicher aber in der Elementenlehre des Empedokles (490–430 v. Chr.).[5][6] Den vier empedokleischen Grundelementen Feuer, Erde, Wasser und Luft ordnete Zenon von Elea im 5. Jahrhundert dann die Primärqualitäten heiß, kalt, feucht und trocken zu,[7] auf deren gegensätzliche Wirkungen sich auch Alkmaion[8] bezogen hat.

Als Begründer der Humoralpathologie gilt Polybos, der angebliche Schwiegersohn des Hippokrates.[9][10] Weiterentwickelt und mit antiken Vorstellungen zusammengebracht wurde die medizinische Theorie der Säftelehre durch Galen, der sie mit der Temperamentenlehre verband. Er unterteilte die Primärqualitäten, deren übermäßige bzw. zu geringe Ausprägung krankheitsverursachend sein kann (etwa bei zu viel „Kälte“ oder großer „Hitze“), weiter (zum Beispiel „feucht im dritten Grade“ oder – etwa in Bezug auf die Rose[11] – „kalt im ersten Grad“).[12][13] Die Anwendung der Heilmittel beruhte ebenfalls auf den seit Galen bis in die Neuzeit in der Heilkunde gültigen Primärqualitäten („warm/kalt“, „trocken/feucht“).[14] So gibt es im System der Humoralpathologie solche, die erwärmen, kühlen, trocknen oder befeuchten und somit den entgegengesetzt ausgeprägten Krankheiten entgegenwirken sollten.[15] Galen schrieb das gesamte Konzept in seiner endgültigen Form nieder. Verfeinert wurden Galens Lehren noch einmal im 11. Jahrhundert durch Avicenna in seinem Kanon der Medizin.

Als Lebensträger im Körper wurden gemäß dem humoralpathologischen Konzept Gelbe Galle (cholera, colera, dem Elemente Feuer entsprechend), Schwarze Galle (melancholia, melancolia, dem Element Erde entsprechend), Blut im engeren Sinne (sanguis oder griechisch haima, dem Element Luft entsprechend) und Schleim (phlegma, flegma, dem Element Wasser entsprechend)[16] angenommen. Diese vier Säfte (Leibessäfte, auch Leibesfeuchten, lateinische humores) würden demnach über das Blut und auch über die Nerven im Körper verbreitet. Der Bereich der Verdauung wurde von der Digestionslehre näher behandelt.

  1. Duden: Humoralpathologie.
  2. Heinz Otremba: Rudolf Virchow. Begründer der Zellularpathologie. Eine Dokumentation. Echter-Verlag, Würzburg 1991, S. 43.
  3. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 8.
  4. Vgl. auch Hermann Grensemann: Der Arzt Polybos als Verfasser hippokratischer Schriften. Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (In Kommission bei Franz Steiner Verlag, Wiesbaden), Mainz 1968 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1968, Nr. 2), unter anderem S. 82–91 (De octimestri partu und De natura hominis).
  5. Johannes Gottfried Mayer: Die Entstehung der Viersäftelehre in der griechischen Naturphilosophie. In: Mayer, Goehl: Kräuterbuch der Klostermedizin. 2003, S. 30–41.
  6. Hermann Grensemann: Der Arzt Polybos als Verfasser hippokratischer Schriften. (in Kommission bei) Franz Steiner, Wiesbaden 1968 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1968, Nr. 2), S. 91 f. (Empedokleischer Einfluß)
  7. Gundolf Keil: Humoralpathologie. 2005, S. 641–642.
  8. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 7–8.
  9. Gundolf Keil: Fieberlehre. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 398–400, hier: S. 398 (Hippokratiker).
  10. Hermann Grensemann: Der Arzt Polybos als Verfasser hippokratischer Schriften. Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (In Kommission bei Franz Steiner Verlag, Wiesbaden), Mainz 1968 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1968, Nr. 2), insbesondere S. 80–81.
  11. Willem Frans Daems: Die Rose ist kalt im ersten Grade, trocken im zweiten. In: Beiträge zu einer Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Band 25, Nr. 6, (Stuttgart) 1972, S. 204–211.
  12. Gundolf Keil: Qualitäten- und Gradenlehre. In: Verfasserlexikon. 2. Auflage. Band 7 (1995), Sp. 353 f.
  13. Johanna Bleker: Die Geschichte der Nierenkrankheiten. Boehringer Mannheim, Mannheim 1972, S. 10.
  14. Vgl. auch Karl-Heinz Leven: Antike Wurzeln. Auf den Schultern von Hippokrates und Galen. In: Medizin im Mittelalter. Zwischen Erfahrungswissen, Magie und Religion (= Spektrum der Wissenschaft. Spezial: Archäologie Geschichte Kultur. Band 2.19), 2019, S. 12–15, passim.
  15. Vgl. etwa Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 160 und 202 (zu Galen, Über Mischung und Wirkung der einfachen Heilmittel, Buch I, Kap. 27).
  16. Vgl. etwa Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 1960, S. 8.

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